Roland Leutenegger
Wir haben Abschied genommen…
Aktualisiert: 1. Nov. 2019

Niemand ist verstorben, keine Sorge. 2016 haben wir uns aber von drei weiteren Publikumsmessen verabschiedet. Ein drastischer Schritt für uns als alte Messefirma. Wir haben ein kritisches Resumée gezogen.
Als Messeunternehmen entstanden
Die Pudol Chemie AG wurde vor über über 50 Jahren als Messefirma gegründet. Mit erfolgreichen Publikumsmessen sind wir gross geworden. Das Messegeschäft hat sich in den letzten 20 Jahren jedoch tiefgreifend verändert. Für einen Kleinaussteller wie uns hat sich das Kosten-/Nutzenverhältnis gleich in doppelter Hinsicht negativ entwickelt: zum einen stiegen in dieser Zeit die Teilnahmekosten um rund 40%, während die Messeverkäufe – direkt an der Messe erzielte und messbare Anschlussbestellungen im Nachgang – etwa im gleichen Ausmass zurückgegangen sind. Eine dramatische Entwicklung. Wir sind zum Schluss gelangt, dass sich für uns der Auftritt an klassischen Hallenmessen nicht mehr lohnt.
An diesen Messen nehmen wir seit 2016 nicht mehr teil

Den Entscheid haben wir uns nicht leicht gemacht – nach fast 30 Jahren ununterbrochener Teilnahme an der BEA in Bern und der ZOM in Wetzikon und gar mehr als 50 Jahren an der Olma.
Wie war das eigentlich früher? Hier ein kleiner Rückblick:
Die 70er- und 80er-Jahre: „technische Neuigkeiten“ treiben das Geschäft
In den erfolgreichen 70er- und 80er-Jahren profitierten Publikumsmessen wie Muba, Züspa, BEA oder der Comptoir einer überwältigenden Zahl technischer oder modischer Neuigkeiten aus aller Welt. Und die gab es zuerst, vor allem oder nur an Messen zu kaufen. Vollmundige und laute Messeverkäufer, vornehmlich aus Deutschland, priesen ihre Produkte und führten sie einem staunenden Publikum vor. Raffinierte Küchenhilfen, Wundertücher, Teflonpfannen, Wasserbetten, Dampfstaubsauger, Billigreisen, günstige Versicherungen, exotischer Schmuck, Gesundheitsnahrung und und und. Mit anderen Worten: fast alles fand zu fast jedem Preis seine Abnehmer, Hauptsache neu.
Neue Vertriebsformen seit den 90er-Jahren
In den 90er-Jahren liess der Strom innovativer Produkte keinesfalls nach. Viele der damals lancierten Neuigkeiten halten sich bis heute und fanden Eingang ins Standardsortiment grosser Einzelhändler, wie beispielsweise Mikrofasertücher, Dampfstaubsauger, Gesundheitsnahrung oder Modeschmuck. Damit stieg der Konkurrenzdruck – und der Messeverkauf musste selektiver werden. Immer öfter war der Einzelhändler schneller mit innovativen Produkten versorgt als mancher Messeverkäufer.

Mit Teleshopping trat schliesslich eine völlig neue Vertriebsform aufs Tapet, welche mit ihrem aggressiven Verkaufsstil jenem österreichischer Kosmetik-Drückerinnen an der Züspa oder der Dampfstaubsaugerverkäufer an der Muba in nichts nachstand. Teleshopping hat sich nicht an geregelte Hallenöffnungszeiten zu halten, sondern ist 18 Stunden täglich auf Sendung. Europa- und weltweit.
Und heute? Geiz ist geil.

Im neuen Jahrtausend verloren Messen zunehmend an Attraktivität. „Geiz ist geil!“ rief zum Preisvergleich auf, die Konsumenten wurden immer preis-sensitiver. Man lässt sich sich an der Messe beim Fachhändler eingehend einen 4K-Fernseher erklären – und bestellt ihn dann bei Mediamarkt. Oder man kauft langlebige Konsumgüter nur noch über das Webportal ein. Zalando machts vor. Vor allem muss man sich fragen: was heisst heute überhaupt noch langlebig?
Zunehmend entstand der Eindruck, Kunden kauften nicht einfach ein Produkt, sondern vor allem Rabatte und Sonderpreise („Bonus“, „Kundenvorteil“ und wie die Euphemismen alle heissen mögen).
Wo es früher oft nicht teuer genug sein konnte, gilt heute das Gegenteil. Man kauft keine Produkte oder Dienstleistungen mehr, sondern will Prozente. Auch dort, wo es überhaupt keinen Sinn macht (zum Beispiel, wenn beim Modeschmuck für Fr. 7.90 um 20% Rabatt gefeilscht werden will).

Langfristig erfolgreiche Anbieter begannen, sich auf ihre bestlaufenden Produkte zu konzentrieren (Gemüsehobel, Stabmixer und andere Küchen- und Reinigungsgeräte), und der Messebesucher sagt: „Langweilige Messe – gleiche Anbieter, gleiche Produkte, wie seit 30 Jahren!“ Wer aggressiv verkauft, geniesst heute wohl die Aufmerksamkeit des Publikums, weckt aber in der RegelMisstrauen, als Kaufinteresse. Echte Produkteneuigkeiten sind an Messen kaum mehr zu finden.

Parallel dazu hat sich das Publikum und dessen Verhalten gewandelt. Man möchte Freunde treffen, etwas flanieren. Eine Bratwurst zu Fr. 7.50 und ein Bier für Fr. 6.- als Höchstkonsumation – wem mag man das verübeln, bei Eintrittspreisen von 18 Franken und Parkhauskosten von 20 Franken oder mehr.
Messeleitungen: Shoot for the moon…*
Und wie reagieren die Messeveranstalter? Kleinwarenmessen sollen zu Erlebnismessen – sorry, Events – umfunktioniert werden. Kann man machen. Obs beim Publikum ankommt, ist eine andere Sache. Ein Luca Hänni am Freitagabend in einer Zelthalle im Zürioberland oder ein zusätzliches Säulirennen an der Olma vermögen das Publikum wohl kaum zu mehr Messebesuchen und mehr Einkäufen zu animieren.
Bei der Züspa und der Muba war festzustellen: parallel zu den Teilnahmegebühren stieg in den letzten 10 Jahren eigentlich nur die Arroganz unqualifizierter Messeleiter und ihrer teilweise fast mafiöser Mitarbeiter. Alles anderen entwickelte sich im Messegeschäft rückläufig, und zwar rasant. Hätten wir uns nach langem Zusehen nicht entschieden, gleich eine ganze Reihe von Publikumsmessen aufzugeben, gäbe es uns nicht mehr.
Den Grund für unseren damaligen Abschied von der Muba sei hier rückblickend doch noch genannt: unser attraktiver 5 x 3m-Standplatz in der Halle 2, welchen wir seit mehr als 40 Jahren hielten, wurde Panasonic für einen 18m-Stand zugehalten, während wir uns mit einer dunklen Nische hätten begnügen sollen. Damit war das Fass voll.
Traditionelle Messen

In unserem Messegeschäft konzentrieren wir uns heute noch auf zwei grosse traditionelle Messen: die Lozärner Määs in Luzern und die Basler Herbstmesse. Sie finden im Freien statt, in gepflegten Holzhäuschen, dauern mehr als zwei Wochen – und bieten freien Eintritt. Von der fröhlichen Stimmung und der tollen Atmosphäre gar nicht zu sprechen.
Lange Messen kommen unseren Gegebenheiten eher entgegen. Zum einen besuchen uns die treuesten Stammkunden, teilweise bereits in dritter Generation, zum anderen gelingt es uns aber auch, erstaunlich viele jüngere Neukundinnen und -kunden zu gewinnen. Teils auf Empfehlung, teils spontan. Ein gepflegter Auftritt, unaufgeregte Beratung, hervorragende Produkte und der gezielte Einsatz von Produktemustern führt dazu, dass manche Kundin zwei oder dreimal am Stand auftaucht. Spätestens beim zweiten Besuch in interessierter Begleitung. An einer teuren Hallenmesse wäre dies kaum möglich
.
Unsere künftige Herausforderung sehen wir darin, Kunden aus der virtuellen Welt an den Verkaufsstand vor Ort zu bringen und interessierte Messebesucherinnen und -besucher, welche aus verschiedenen Gründen nichts an der Messe kaufen möchten, mindestens als Shopkunden zu gewinnen. Dass alle Produkte am Stand gekauft werden können, bleibt für uns zentral. Bloss Bestellungen notieren, um damit primär an Kontaktadressen zu kommen, wie dies beispielsweise eine innerschweizer Nahrungsmittelergänzungsproduktehändlerin tut, wäre uns unsympathisch.
Warum Hallenmessen viel zu teuer sind
Ein Vergleich von Hallenmessen wie Muba, Züspa, Olma und ZOM mit Freiluftmessen wie die Määs und die Basler Herbstmesse, hinkt natürlich. Schliesslich gilt es auch die Wetterrisiken zu berücksichtigen. Trotzdem: die untere Tabelle zeigt klar, warum Hallenmessen wie Muba, Züspa, Olma oder ZOM für einen Kleinanbieter, wie uns, sehr unattraktiv sind:

Unsere Kosten: die gesamten Teilnahmekosten (Platzmiete, Logistik und Personalkosten von Fr. 25.-/h). Erreichbarkeit: Anzahl Messebesucher pro Tag, geteilt durch Kosten pro Tag.
Die Spalte „Erreichbarkeit“ zeigt, wieviele Messebesucher theoretisch mit einem Franken Kosteneinsatz erreicht werden können. Luzern und Basel schwingen in dieser Betrachtungsweise klar obenaus. Interessant ist in unserem Fall aber auch, dass sich unsere Verkaufsumsätze umgekehrt proportional zu den Kosten verhalten haben.

Solche Zahlen zu publizieren, ist natürlich immer etwas gefährlich. Der Gedanke, in Luzern und Basel seien die Teilnahmekosten schlicht zu tief, weil die Organisatoren ihr Potential nicht ausschöpften, ist natürlich falsch. Luzern und Basel bieten Kleinanbietern die Chance – wenn sie alles richtig machen – tatsächlich etwas Geld zu verdienen. Dafür sind wir dankbar. Und an diesen Messen werden wir auch festhalten. Solange Sie als Kunden uns treu bleiben. Und solange es uns gibt.
Nachtrag vom 28.6.2018
Vom 20. – 29. April fand in Basel die 102. MUBA statt. Die „Mutter aller Warenmessen“, wie die Basler Zeitung in ihrem schonungslosen Rückblick schreibt. Es war die Zeitletzte. Nach 103 Jahren wird die Muba nach 2019 eingestellt. Irgendwie lagen wir vor zwei Jahren mit unserem eigenen Assessment richtig.
„Die Mutter aller Messen liegt auf dem Sterbebett (BaZ, 30.4.2018) „Bonjour tristesse: Ist das wirklich die Muba?“ (barfi.ch, 24.4.18) „Die Muba wird eingestampft“ (BaZ, 28.6.2018)
Nachtrag vom 20.11.2018
Wenig überraschend hat die MCH Messe Schweiz AG, Veranstalterin der Muba, Züspa, des Comptoir Suisse und einer ganzen Reihe von Fachmessen, bekanntgegeben, dass ab 2019 auch die Züspa in Zürich und der Comptoir in Lausanne nicht mehr durchgeführt werden. Traditionelle Konsumgütermessen, namentlich in städtischen Gebieten, würden nicht mehr den Erwartungen der Aussteller und des Publikums entsprechen. MCH wolle bis 2020 eine neues, innovatives Format entwickeln. Geprüft werde eine hybride Publikumsplattform, welche das temporäre physische Live-Erlebnis vor Ort mit verschiedenen digitalen Angeboten verbinden und so ganzjährig präsente Communities bilden soll.
Der angepeilte Messebesucher wird diese Message nicht verstehen. Als ehemaliger Finanzanalyst verstehe ich den Satz jedenfalls auch nicht. Ersetzt man das „temporäre physische Live-Erlebnis vor Ort“ durch „tiefste Preise“, ergibt sich bloss eine perfekte Beschreibung von Amazon oder Alibaba… Hat denn die grösste Messeorganisation der Schweiz mit internationalem Know-how-Anspruch immer noch nichts gelernt?